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Ruth Hermanns

„Den Tagen mehr Leben geben“

Hospizseelsorge: Begleitung in der letzten Lebensphase

Sie besucht Sterbende und ihre Angehörigen in der letzten Phase ihres gemeinsamen Lebens, bietet Gespräche an, hört zu. Ruth Hermanns ist Seelsorgerin im Hospiz am Waldkrankenhaus in Bonn Bad Godesberg. Im Interview spricht sie über ihre Aufgaben, Begegnungen mit schwerkranken Menschen und was Sterben in Würde für sie bedeutet.

 

Welche Aufgaben haben Sie als Hospizseelsorgerin?

Ruth Hermanns: Ich betreue im Wesentlichen die katholischen Patienten, wenn sie es möchten. Aber natürlich auch die Patienten, die aktuell keiner Konfession angehören oder gar keine haben. Und dann bin ich auch für die Angehörigen da, wenn sie das möchten.

Für wen genau ich Ansprechpartnerin bin, entscheidet sich meist im Gesprächsprozess selbst. Das kann für die ganze Familie oder nur einen Angehörigen sein. Denn mancher Gast möchte nicht, dass noch mal mit seiner Familie gesprochen wird. Dann bleibt das Gespräch im Verschwiegenheitsraum mit mir als neutraler Ansprechpartnerin.

 

Wie unterscheidet sich die Arbeit im Krankenhaus von der Arbeit im Hospiz?

Ruth Hermanns: Der Unterschied ist, dass im Krankenhaus ein viel schnellerer und höherer Durchlauf ist und die Erkrankungen nicht alle diese Schwere haben. Wenn eine schwere Erkrankung vorliegt, liegt der Fokus stark auf der Behandlung, um möglichst eine Heilung herzustellen.

Wenn klar ist, dass eine Heilung nicht mehr herstellbar ist, unterscheiden sich Krankenhaus und Hospiz im Wesentlichen von den Rahmenbedingungen. Im Krankenhaus ist sehr viel weniger Zeit, die Pflegemöglichkeit für den Einzelnen ist viel geringer. Gesprächsmöglichkeiten kann man anbieten, aber es ist einfach auch oft schwer den Raum zu sichern.

Im Hospiz ist eine sehr viel größere Ruhe und es ist mehr Personal da. Dort kann mehr auf die persönlichen Wünsche eingegangen werden, zum Beispiel was den Ablauf eines Tages angeht. Im Krankenhaus läuft das einfach nach Vorgaben. Im Hospiz ist der Tagesablauf auf den Gast zugeschnitten, soweit das im Rahmen der Möglichkeiten ist. Auch hier wird das Essen zu bestimmten Zeiten bereitgestellt, aber es kann zum Beispiel später aufgewärmt werden. Oder wenn ein Patient spät geweckt werden will, dann wird er spät geweckt. Der Blick liegt auf dem Gast. Der Tagesablauf sollte ihm entsprechen, ihn darin lassen, wie er bisher gelebt hat und ihm nicht jetzt ein anderes Gerüst aufzubringen. Es geht darum zu schauen, was ist das für ein Mensch, was hat er für Gewohnheiten und ihm diese auch zu lassen, soweit das geht.

 

Worüber sprechen sie mit den Patienten?

Ruth Hermanns: Sie erzählen mir von Familie, Freunden und ihrem bisherigen Leben. Manchmal blicken wir über die Gespräche auf das Leben zurück und würdigen es, auch Konflikte, die vielleicht da sind, aber auch das gelingende in den Beziehungen. Und dann geht es oft auch um spirituelle Fragestellungen.

Zurzeit bin ich mit einem Mann im Gespräch der von sich sagt, er ist zwar in der Kirche geblieben, hat allerdings nicht mehr viel mit der Organisation und Gottesdienstbesuchen zu tun. Aber er ist immer noch auf der Suche nach einer spirituellen Perspektive, und fragt sich, ob das, was er an Liebe für seinen kleinen Sohn empfindet, irgendwie Bestand haben kann.

Ich habe immer das Gefühl, dass Spiritualität so eine Grunddimension von Leben ist. Für manche Menschen ist Spiritualität kein Thema, spielt dann aber in Ängsten eine Rolle, die sich möglicherweise entwickeln, wenn ihnen nicht klar ist wohin sie gehen oder keine Vorstellung davon haben. Andere Menschen möchten das so aushalten. Und dann gibt es eine ganze Reihe Menschen, die einfach für sich immer wieder versuchen, das auch in eine Vorstellung zu bekommen.

 

Mit welchen existenziellen Fragen von Sterbenden werden sie konfrontiert?

Ruth Hermanns: Sterben ist nach Lebensalter ein bisschen unterschiedlich. Es geht um den Schmerz, seinen Angehörigen dieses Sterben jetzt so anzutun, nicht mehr da zu sein und sie zurückzulassen. Da ist das Gefühl, durch den eigenen Tod ändert sich die Lebensperspektive der Angehörigen. Das beschäftigt die Menschen, manchmal auch sehr qualvoll.

So auch der Vater mit dem noch kleinen Jungen, mit dem ich derzeit spreche. Da fällt schon der Satz, „ich mute dem Kleinen zu, ohne Vater weiterzuleben“. Und doch kommt auch das Thema durch, was der Vater dem Sohn mitgibt, was er dem Sohn „implantiert“ hat. Das fand ich eine schöne Formulierung, eine hoffnungsvolle, zu sagen: es geht nicht alles nur kaputt und es ist nicht nur viel, was verloren geht.

 

Welche Fragen bringen die Angehörigen mit?

Ruth Hermanns: Die Angehörigen sind ganz oft von schlechten Gefühlen erfüllt, ihre Angehörigen in eine Pflegeeinrichtung zu bringen. Sie legen sich das selbst als Versagen aus. Weil ich es nicht schaffe, muss er jetzt in die Einrichtung gehen. Oder es geht um ein gebrochenes Versprechen, den Sterbenden zu Hause pflegen zu können. Und dann merken sie, dass der Umgang mit Schmerzen, mit Atemnot zu Hause nicht so geht wie gedacht. Und es geht auch um Selbstvorwürfe: Habe ich genug getan? Tue ich genug? Mache ich es gut genug?

Ein wichtiges Thema ist auch die Frage der Beziehung zueinander. Wenn ein Mensch schwer erkrankt und stirbt, verändert das nicht völlig die Beziehungen. Eine schwierige Beziehung wird dadurch zum Beispiel nicht besser. Das kommt in solchen Situationen noch mal auf den Punkt und beschäftigt nicht nur die Beteiligten, sondern auch die anderen Angehörigen.

Im Hospiz sehen wir häufig, dass oft die Kontakte zu einem oder auch zu mehreren Kindern nicht mehr da sind. Da steckt meist eine lange, schmerzliche Geschichte hinter. Bei Manchen gelingt dann wieder eine Kontaktaufnahme, bei Anderen nicht. Es gibt oft die Idee, wenn man ins Hospiz kommt und ein Sterben stattfindet, dann muss das alles noch rund werden. Rund im Sinne von versöhnlich, friedvoll. Da entstehen bestimmte Vorstellungen: Wenn wir alles dafür tun, dann wird das so. Und dann ist es schwer zu erkennen, dass vieles nicht mehr in dem Sinne rund wird, denn das können wir nur zu einem kleinen Teil beeinflussen.

 

Welche Antworten können Sie da als Theologin und Seelsorgerin geben? 

Ruth Hermanns: Ich antworte dann mit einem Spruch aus dem Johannesevangelium. „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Also eher zu sagen: Ich habe ein hohes Zutrauen, dass da, wo wir Wahrhaftigkeit zeigen, etwas Wertvolles ist und es auch bewahrt bleibt. Dabei ist es wichtig, Dinge auch so zu lassen, wie sie nun mal sind. Vielleicht eine Idee davon zu bekommen, dass es bereits ein Liebesakt ist dieses anzuerkennen. Vielleicht übergebe ich es auch einem liebenden Gott, der es dann liebevoll aufnimmt - auch das Ungeratene, Zerbrochene. Und dann zu sagen, es muss auch nicht alles gut werden. Man kann immer noch eine Hoffnung haben, dass Gott mit uns noch Wege weiß, abseits von denen, die wir selbst wissen.

 

Gibt es Momente in den Gesprächen, in denen sie sprachlos sind oder auch keine Antwort wissen?

Ruth Hermanns: Ich merke schon, dass ich auch mal sprachlos bin. Zum Beispiel bei einer Familie der so wahnsinnig viel Leid widerfährt. Einer nach dem anderen stirbt und ein Kind bleibt zurück das weiß, die Mutter ist krebskrank, der Vater wird jetzt daran sterben. Da bin ich schon auch sprachlos und ja, manchmal durchaus auch zornig und denke, was soll denn das. Warum wird manchen Menschen einfach so viel zugemutet?

Dann ist mir aber auch wichtig, wieder auf die andere Seite zu gucken. Zu schauen, was die Menschen damit machen und wie liebevoll sie miteinander umgehen, obwohl sie wissen, dass sie wirklich etwas schlimm getroffen hat. Das ist noch mal eine eigene Kraft, den Blick darauf zu lenken. Mit ihnen zu entdecken, was bei alldem, was das Leben ihnen Schlimmes anbietet, sich offenzuhalten für Gutes, Liebevolles und wie sie es schaffen, das miteinander zu machen.

 

Was hilft in sprachlosen Momenten?

Ruth Hermanns: Ich merke oft, dass die Menschen in sprachlosen Momenten Symbole, Zeichen oder Berührungen suchen. Also nach einer Hand tasten oder manchmal auch selbst so etwas kreieren. Neulich wurde ein Mann eingeliefert, der schon nach zwei Tagen starb. Die Pflegenden hatten seine Frau und die Tochter ermutigt im Wohnzimmer des Hospizes etwas zu essen, da ihr Mann so stabil aussah. Als sie vom Essen zurückkamen, war er gestorben.

Die Situation war für die Familie furchtbar, denn sie wollten dabei sein und hatten das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben. Da sagte die Frau dann: Wir brauchen jetzt was Religiöses. Im Gespräch erzählte sie mir, dass ihr Mann lange krank war und sie mit ihm ab und an sonntags den Gottesdienst geguckt habe. Oft hätten sie Hand in Hand zusammengesessen. Und so kam die Frage auf, ob wir etwas zusammen beten könnten.

Wir haben ihren Mann zusammen verabschiedet und darüber gesprochen, ob sie dabei seine Hand halten wolle. Sie hat zu ihm geblickt und ich habe gemerkt, dass sie innerlich zurückzuckte, weil sie an dem Punkt gemerkt hat: Er ist tot, kann ich da einfach so seine Hand nehmen? Und während wir das Vaterunser gebetet haben, hat sie ganz selbstverständlich mit der einen Hand nach seiner gegriffen und die andere Hand ihrer Tochter hingehalten, die danebenstand. Sie hat eine Brücke zu ihrer Tochter gebaut. Manchmal bin ich ganz gerührt, dass die Menschen eine Symbolik für sich finden, die ihnen hilft weiterzumachen.

Konkrete Anfragen nach Riten wie Kommunion, Krankensalbung oder Krankensegen haben die Menschen von sich aus dagegen weniger. Da ist es als Seelsorgerin eher wichtig den Punkt zu erwischen, um das anzusprechen. Ich frage dann nach, ob es ein Bedürfnis ist, mache aber auch deutlich, dass keine Erwartungen an meine Nachfrage geknüpft sind. Es ist eher eine Ermutigung zu sagen, das gibt es auch noch. Da erlebe ich schon öfter, dass Menschen positiv auf das Angebot reagieren, obwohl sie von sich aus vielleicht nicht nachgefragt hätten.

Den älteren Menschen sind diese Riten noch sehr vertraut, die wissen genau, dass sie zum Beispiel eine Krankensalbung wollen. Die jüngeren Menschen wollen eher wissen, wer kommt und in welcher Art und Weise findet die Krankensalbung statt. Die Krankensalbung wird oft mit dem unmittelbaren Sterben in Verbindung gebracht. Eine Alternative bietet da der Krankensegen. Denn das Ritual soll natürlich als wohltuend empfunden werden.

 

Wird der Glaube in solchen existenziellen SItuationen wieder wichtig oder neu entdeckt?

Ruth Hermanns: Bei einigen Menschen würde ich das bejahen. Wenn die Menschen mal mit dem Glauben verknüpft waren, kommt das schon wieder. Manche Menschen haben sich vom Glauben entfernt, aber die Frage, was wird mit meinem Leben, gibt es eine Auferstehung, die beschäftigt sie. Da finde ich es wichtig, mich als Gesprächspartner anzubieten.

Und dann gibt es natürlich die Menschen, die überhaupt nicht mit einem Glauben aufgewachsen sind. Ich glaube, alle beschäftigt schon, wie das mit dem Sterben sein wird. Es beschäftigt nicht alle, wo es dann hingeht, aber diese Fragen sind da. Als Seelsorgerin gehe ich auch hier mit den Menschen in Kontakt. Wenn man sich ein bisschen offen zeigt und die Menschen auch Offenheit mitbringen, dann kann man an solchen Themen und Fragen etwas miteinander entwickeln.

Es gibt auch Menschen, die sich verschließen oder mit der Thematik nichts zu tun haben möchten. Das gilt es dann zu respektieren. Heißt aber nicht, dass sie nicht zum Beispiel mit Pflegenden über solche Fragen sprechen. Da zeigt sich dann, dass wir Seelsorge als Team machen.

 

Was bedeutet für Sie Sterben in Würde? 

Ruth Hermanns: Ich finde es wichtig, dass die Menschen mit dem, wie sie bisher gelebt haben, möglichst viel bis zum Ende vorkommen. Also sie nicht dazu bringen zu wollen, jetzt anders zu werden. Respekt ist wichtig, auch vor der Autonomie. Manche Menschen denken, im Grunde dürfte man gar nicht diese Schwächung durch Sterben erleben, sondern müsste das dem Menschen ersparen. Da habe ich einen anderen Begriff von Würde. Auch zu sagen, Sterben ist ein schwerer und schwieriger Prozess, ähnlich wie bei einer Geburt. Aber auch ein Prozess, der, wenn er gut unterstützt ist, noch eine Menge an Potenzial für den Menschen bereithält. Und das, finde ich, hat für mich mit Würde zu tun. Einem Menschen gut auf der Spur zu bleiben, wie er ist und worin er sich auch in dieser Situation noch entwickelt.

Wichtig ist der Blick auf den Einzelnen, denn jeder Mensch ist anders. Der eine quält sich jeden Tag noch ins Bad und möchte keine Hilfe annehmen, weil es hier um seine Würde geht. Ein anderer tut sich schwer damit Hilfe anzunehmen, lässt sie aber jetzt zu. Auch das hat etwas mit Würde zu tun. Das muss man individuell herausfinden. Und dann, je nachdem, auch Dinge zu lassen, die sonst als unwürdig empfunden werden. Ich erlebe häufiger, dass ein Mensch sagt, das brauche ich jetzt für meine Würde, das nicht mehr zu erleben oder das auf diese Art zu machen.

 

Ruth Hermanns ist Pastoralreferentin und seit 28 Jahren Krankenhausseelsorgerin. Zusätzlich hat sie eine Ausbildung zur Psychotherapeutin, Supervisorin und Ethikberaterin gemacht. Derzeit arbeitet sie am Johanniter Waldkrankenhaus in Bonn Bad Godesberg und ist gleichzeitig auch für das Hospiz am Waldkrankenhaus beauftragt.