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Karin Lackus

"Aber dann gibt es kein Zurück"

Kommentar: Kann man Sterbehilfe rechtlich regeln?

Alle Vorschläge zum assistierten Suizid setzen voraus, dass sich Menschen klar entscheiden. Doch gerade für Schwerkranke ist das Leben nicht schwarz oder weiß.

Viele Vorträge über den assistierten Suizid beginnen mit einem Fallbeispiel. Meist werden extreme Geschichten erzählt, je nachdem, wo der Autor, die Autorin in der Sterbehilfedebatte steht, geht es entweder um ein besonders friedliches Sterben oder ein besonders schreckliches Leiden. Damit wird immer auch angedeutet, dass der "normale" Mensch gar nicht wirklich beurteilen kann, wie es Schwerkranken geht.

Ich verfolge die Debatte über Sterbehilfe seit Jahrzehnten. Ich bin Pfarrerin, arbeite als Seelsorgerin in einem Krankenhaus und habe schon oft mit Menschen über das Sterben gesprochen. Seit fast einem Jahr bin ich selbst lebensbedrohlich erkrankt, habe mir also eine Kompetenz angeeignet, auf die ich gern verzichtet ­hätte. Aus dieser Perspektive fällt mir besonders auf, wie sehr die öffent­liche Diskussion über den ­assistierten ­Suizid die gesellschaftliche Wirklichkeit in Deutschland bereits verändert hat. Wer regelmäßig liest oder hört, dass es ein Menschenrecht ist, das ­Leben autonom und selbst­bestimmt zu beenden, der fragt sich in der ­Situation der Krankheit unwillkürlich, ob es wirklich richtig und angemessen sein kann, einfach so das Leben zu Ende zu leben.

Mich erinnert dies an die ­Debatte um die Pränataldiagnostik in den 1980er Jahren. Auch damals ging die Selbstverständlichkeit, einfach so guter Hoffnung zu sein, schon durch die Diskussion um die vorgeburtlichen Früherkennungsmethoden verloren.

Wer sind wir denn, dieses Leiden infrage zu stellen?

Fast ein wenig altmodisch wirkt da die Lebensgeschichte eines Mannes, den ich kannte. Er erkrankte als junger Vater neurologisch, war jahrzehntelang auf Pflege angewiesen und äußerte sich kurz vor seinem Tod dankbar, dass er nie die Chance gehabt habe, um Sterbehilfe zu ­bitten. So kenne er nun alle seine Enkel, und das freue ihn. Es habe Momente in seinem Leben gegeben, in denen er sich vermutlich für ein Ende entschieden hätte. Aber jetzt sei es eben so, und so sei es gut.

Hätte sich dieser Mann in seiner ausweglosen Situation um assistierten Suizid bemüht, wäre das eine nachvollziehbare Entscheidung ge­wesen. Wer sind wir denn, dieses ­Leiden infrage zu stellen? Nun hat er aber wegen fehlender Möglichkeiten sein Leben zu Ende gelebt, und auch das wirkt im Nach­hinein stimmig und harmonisch. Beides scheint "richtig" zu sein – nur, genau das geht nicht. Nehme ich mir das Leben, dann ist es zu Ende und ich weiß nicht, was gekommen wäre.

Wir können uns immer irren

Als ich einem anderen Mann von dieser Erfahrung erzählte, sagte er, das würde ihn verunsichern. Er sei sich immer sicher gewesen, bei schwerer Krankheit so aus dem Leben zu gehen, wie er gelebt habe, selbst­bestimmt und autonom. Nun sei ihm der Ge­danke gekommen, ob er da nicht vielleicht doch etwas verpasse. "Das kann gut sein", habe ich ihm geantwortet.

Bei komplexen Entscheidungen können wir uns eben immer auch ­irren. Deshalb sind wir uns auch selten hundertprozentig sicher, meist spricht vieles für und manches gegen eine Option. In einer Krankheits­situation, die häufig wenig mit Selbstbestimmung zu tun hat, dafür viel mit Kontrollverlust und gefühls­mäßigen Achterbahnen, ist es erst recht schwer, eine "richtige", felsenfeste, sichere Entscheidung zu treffen. Alle politischen und rechtlichen Vor­schläge, wie man bei assistiertem Suizid verfahren sollte, fordern aber genau das, eine nachprüfbare Entscheidung ohne Zweifel, die dann das Prädikat "richtig" erhält.

Manchen gelingt das, sie betonen vor Kameras, dass sie sicher sind, sterben zu wollen. Und ich frage mich: Haben diese Menschen jetzt überhaupt noch die Möglichkeit, erhobenen Hauptes die Meinung zu ändern? Darf man Menschen, zu ­deren Menschsein der Zweifel gehört, in eine solche Situation bringen?

Gesunde sind sich oft sehr sicher

Als Pfarrerin habe ich Patientinnen und Patienten während der Chemotherapie besucht, die vorher überzeugt waren, sich nie wieder ­darauf einzulassen. Ich habe erlebt, wie Menschen in einer Patientenverfügung rigoros künstliche Ernährung in jeder Situation abgelehnt haben und dann froh darüber waren.

"Gesunde" sind sich oft sehr sicher, was sie am Ende des Lebens wollen oder nicht, welches Leben noch gut sein kann. In einer Diskussion äußerte ein älterer Mann, jegliche Form der Pflegebedürftigkeit würde ihm reichen, um nicht mehr leben zu wollen. Genau das gehört tatsächlich zum Leben vieler kranker Menschen dazu und ist mehr als gewöhnungsbedürftig. Konkret sieht vieles aber dann doch anders aus, und Leben bleibt eine prima Alternative.

Dennoch ist der Gedanke an Suizid in der Situation schwerer Krankheit keineswegs neu und außergewöhnlich. Ich denke an eine Patientin, die mir ihre gesammelten Medikamente zeigte. Sie kenne sich gut aus und warte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt, erzählte sie selbstbewusst. Aber der kam offensichtlich nie, denn nach ihrem Tod lagen die Tabletten noch wohlgeordnet in der Schublade. Was hätte es bedeutet, wenn ­diese Frau sich auf ein Verfahren zum ­assistierten Suizid eingelassen hätte? ­Hätte sie sich getraut, ihre Entscheidung, derer sie sich so sicher war, täglich neu über den Haufen zu werfen?

Vertrauen lässt sich nicht bis ins Detail regeln

Es ist ein Grundelement guter Palliativarbeit, dass alles gedacht und gesagt werden kann und morgen wieder anders. Dazu gehört auch, dass Mitarbeitende sich manchmal in einem ethischen und juristischen Graubereich bewegen, wenn sie zum Beispiel von heimlichen Suizidplänen wissen. Das ist dann eben so, Vertrauen lässt sich nicht bis in jede Verästelung hinein rechtlich regeln.

Es ist zudem absurd und rechtlich sicher auch regelbar, wenn Ärzte und Ärztinnen befürchten, mit einem Bein im Gefängnis zu stehen, wenn sie ­Patienten beispielsweise stark wirksame Medikamente für mehrere ­Tage verschreiben. Hier geht es um das ­notwendige ärztliche Vertrauen in mündige Patientinnen und Patienten, was die Voraussetzung ist für offene und glaubwürdige Palliativarbeit.

Moderne Schmerztherapie

Eine weitere Voraussetzung für ­eine sinnvolle Palliativarbeit ist die moderne Schmerztherapie. Heute muss niemand mehr Angst vor andauernden unerträglichen Schmerzen haben. Ich habe das durch meine ­Arbeit als Seelsorgerin und als Patientin er­fahren. Schmerztherapie wirkt, und in extremen Situationen kann letztlich jeder Mensch in Narkose gelegt ­werden, erklärte mir ein Mediziner. Man nennt das palliative Sedierung. Diese ­Möglichkeiten helfen Patientinnen und Patienten, offen zu bleiben, heute ganz anders zu ­denken als gestern und die Grautöne zu leben in einer Situation, die eben nicht nur schwarz oder weiß ist.

Genau das steht im Widerspruch zu allen denkbaren Verfahrensvorschlägen zum assistierten Suizid, die eine nachprüfbare, andauernde Entscheidung brauchen, die offiziell be­wertet und für richtig befunden werden muss. Die Konsequenzen einer ­solchen geregelten Prozedur zur Durchführung eines Suizids sind aus meiner Sicht nicht tragbar, da Menschen in ein entschiedenes Ja oder Nein gezwungen werden, das nicht in diese Situation gehört. Persönlich kann ich mir auch nicht vorstellen, dass irgendwer unter welchen Voraussetzungen auch immer meinen eventuellen Sterbe­wunsch beurteilt, um dann vielleicht herauszufinden, dass ich mir mal wieder nicht ganz sicher bin.

Konkrete Erfahrungen können Ängste nehmen

Vielmehr wünsche ich mir eine wirklich nach allen Seiten offene Palliativ­arbeit, in die viele unterschiedliche Menschen ihre Fähig­keiten einbringen und für das Leben werben. Genau hier ist auch die Seelsorge wichtig, die auf der Seite des Lebens steht, aber ohne überreden oder gar verbieten zu wollen. Und von dieser Arbeit muss erzählt werden. Denn es sind die konkreten Erfahrungen, die Ängste nehmen können – nicht grundlegende ethische, theologische oder rechtliche Theorien, so gut begründet sie auch sein mögen.

Solange es gute Palliativmedizin gibt, die einen Graubereich beinhaltet, ist zumindest meine Angst, mich am Ende zu verlieren, nicht mehr selbstbestimmt leben und autonom entscheiden zu können, geringer. Wovor ich mich momentan wirklich fürchte, ist, Leben zu verpassen, meine Enkel nicht aufwachsen zu sehen, nicht mit meinem Mann alt zu werden. Aber gegen diese Angst hilft der assistierte Suizid nun leider wirklich nicht.

Zur Person

Karin Lackus, Jahrgang 1959, ist evangelische Pfarrerin. Sie studierte evangelische Theologie in Tübingen, Edinburgh, New York und Göttingen. Bei der Ev. Frauenhilfe im Rheinland ist sie Referentin in der Erwachsenenbildung und arbeitet seit 2009 als Krankenhauspfarrerin in Mannheim. Darüber hinaus ist Karin Lackus als Referentin in der Palliativarbeit tätig und hält Vorträge zum Thema. Seit August 2020 ist die Mutter dreier Söhne an Krebs erkrankt.

Redaktioneller Hinweis

Der Kommentar von Karin Lackus zur Sterbehilfe ist im Juni 2021 im Magazin "Chrismon" erschienen.

Die Veröffentlichung des Kommentars auf dieser Seite erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin sowie der Chrismon-Redaktion.