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Symbolbild: Sterbewunsch

"Wir sind aufgerufen, den Tod anzunehmen"

Sterbefasten: Herausforderung Sterbewunsch

Eines Tages hatte Marion M. keine Kraft mehr. Monatelang hatte sie Schmerzen ertragen, hatte gekämpft wie eine Löwin. Eine Therapie nach der anderen hatte sie ausprobiert – ohne Erfolg. Seit sie sich in Indonesien mit einer Amöbenruhr, einer speziellen Darminfektion, infiziert hatte, war ihr Stoffwechsel gestört. Unaufhaltsam wurde sie schwächer, der Tod war nur noch eine Frage der Zeit. Da beschloss Marion M., ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Aber nicht abrupt oder gewaltsam wollte sie sterben, sondern ganz sanft. Sie beschloss, von einem bestimmten Tag an nichts mehr zu essen und zu trinken. Sterbefasten wird das genannt. Ein Filmteam vom Medienprojekt Wuppertal hat sie dabei begleitet, hat sie, ihre Tochter und den betreuenden Arzt interviewt.

Für Seelsorger und Psychologen, stellen Menschen, die sterben wollen, eine besondere Herausforderung dar. Christiana Muth und Ulrich Fink haben das oft in ihrer Arbeit erlebt.

 

Ulrich Fink

„Ich bin nicht lebensmüde, ich bin leidensmüde“, sagt die Protagonistin gleich zu Beginn des Films. Wenn Sie das zu Ihnen als Seelsorger gesagt hätte, Herr Fink, wie hätten Sie reagiert?

Ulrich Fink (Diözesanbeauftragter für Hospizseelsorge im Erzbistum Köln): Ich hätte diese Empfindung sehr ernst genommen. Ich hätte nachgefragt, worin diese Leidensmüdigkeit besteht und was genau sie so müde macht. Ich hätte auch nachgefragt, ob diese Leidensmüdigkeit das Leben wirklich ganz bestimmt, oder ob es doch noch andere Aspekte im Leben gibt, die sie wieder aus diesem Zustand herausführen könnten. Ich hätte jedenfalls nicht direkt darauf geschlossen, dass dieser Mensch seinem Leben ein Ende setzen will.

 

Sicher kennen auch Sie solche Fälle aus der beruflichen Praxis, Frau Muth. Wie gehen Sie als Psychologin mit solchen Menschen um?

Christiana Muth (Psychoonkologin an der Universitätsklinik in Köln): Zunächst einmal muss ich sagen, dass mich dieser Satz sehr beeindruckt hat. Denn er bedeutet ja, dass diese Frau weiterleben würde, wenn es ihr Leid nicht gäbe. Auch ich hätte dann nachgefragt, worin denn ihr Leid besteht, ob es körperliche Schmerzen sind oder psychisches Leid. In jedem Fall kann ich es gut nachvollziehen, dass Menschen eine schwere Belastung irgendwann nicht mehr ertragen können und ihrem Leben ein Ende setzen wollen.

 

Also hätten Sie diese Frau in Ihrem Sterbewunsch begleitet?

Christiana Muth: Auf jeden Fall. Wenn sie ihre Situation subjektiv als unerträglich empfindet, dann muss ich als Psychologin vom Erleben des Patienten ausgehen.

Ulrich Fink: Ich hätte Marion M. gesagt, dass ich ihre Entscheidung respektiere. Ich kann sie aber nicht für mich akzeptieren. Denn akzeptieren würde bedeuten, dass ich ihre Entscheidung auch für mich als sinnvoll und alternativlos erkenne. Das aber ist nicht der Fall, zudem ja niemand weiß, wie lange sie noch mit ihrer Krankheit gelebt hätte. In jedem Fall aber hätte ich sie weiter begleitet. Ich hätte nicht versucht, sie aktiv von ihrem Wunsch abzubringen oder ihr etwas von der Theologie des Leidens zu erzählen, es sei denn, sie selbst hätte das Thema angesprochen. Aber es hätte ja trotzdem passieren können, dass sie im Rahmen dieser Begleitung das Sterbefasten wieder abbricht. Das ist ja ein großer Vorteil dieser Art der Lebensverkürzung, dass man es sich ziemlich lange noch anders überlegen kann.

 

Wenn Sie Marions Entscheidung nicht als die einzig sinnvolle akzeptieren können, welchen Sinn hätte es dann in Ihren Augen, wenn sie ihren Leidensweg weitergegangen wäre?

Ulrich Fink: Nicht ich, sondern Marion M. hätte diesen Sinn dann gesehen. Und dass man so denken kann, weiß ich aus der Begleitung von Menschen, die ihren Lebensweg trotz Schmerz und Leid bis zu Ende gegangen sind, die um jeden Tag, der ihnen noch blieb, gekämpft haben. Ich erinnere mich an einen Mann, der unbedingt noch den Tag seiner Goldenen Hochzeit erleben wollte. Und er hat es geschafft. Die Kraft solcher Menschen bewundere ich zutiefst.

 

Marion M. betont, dass sie stets ein Macher-Typ gewesen sei. Sie will sich nicht von der Krankheit das Heft aus der Hand nehmen lassen. Theologisch gesehen berührt das die Frage der Selbstbestimmtheit des Menschen. Wie ist das Verhalten von Marion M. vor diesem Hintergrund zu bewerten?

Ulrich Fink: Philosophisch-theologisch gesprochen, berührt das den Unterschied zwischen Autonomie und Selbstbestimmung. Marion M. muss erfahren, dass die Krankheit ihre Selbstbestimmung immer mehr einschränkt. Dennoch bleibt sie ein autonomes Wesen und als solches ein Mensch mit seiner ganzen Würde. In der Gesellschaft aber werden die beiden Begriffe immer vermischt, so dass der Eindruck entsteht, dass ein Mensch, der nicht mehr selbstbestimmt leben kann, auch seine Würde verloren hat, und sein Leben letztlich wertlos ist.

Christiana Muth: Das ist ein interessanter Aspekt. Denn letztlich zeigt ja gerade Marions Entschluss, ihr Leben zu beenden, dass sie ihre Autonomie nicht verloren hat.

 

Christiana Muth

Höre ich hier Sympathie für Marions Entscheidung heraus?

Christiana Muth: Wie gesagt: Wenn ein Mensch beschließt, dass er nicht mehr kann, dann ist das eine subjektive Entscheidung, die ich, wenn der Hintergrund dieser Entscheidung genau eruiert ist, als Psychologin akzeptiere. In konkreten Fall beeindruckt mich die Methode, also das Sterbefasten an sich. Im Gegensatz zu anderen Arten des Suizids ist es eine sehr sanfte Art, aus dem Leben zu scheiden. Weder wendet der Fastende Gewalt gegen sich an noch gegen seine Mitmenschen, wie es etwa jemand tut, der sich vor einen Zug wirft. Auch die Tochter sagt ja im Interview, dass sie diese letzten Wochen als eine sehr würdevolle Zeit empfunden hat.

 

Das setzt aber voraus, dass man als Angehöriger bereit ist, den Weg mitzugehen. Denn so eine Begleitung fordert einem ja auch einiges ab…

Christiana Muth: Vor dieser Situation stehen aber alle Angehörigen, die einen Menschen in der letzten Phase begleiten, auch wenn dieser nicht einen aktiven Sterbewunsch geäußert hat. Da gibt es immer Menschen, die sich damit leichter tun, und andere, die das nur schwer ertragen. Als Psychoonkologin kann ich nur versuchen, sie darauf hinzuweisen, welche Stärkung, welche positive Kraft aus der Sterbebegleitung entstehen kann – in der Situation selbst, aber auch für die Zeit nach dem Tod des geliebten Menschen.

Ulrich Fink: Sterbebegleitung, das erlebe ich sehr oft, ist immer eine Herausforderung für die Angehörigen. Die einen nehmen sie an, die anderen entziehen sich. Manchmal ist es sogar so, dass Angehörige die Situation als dramatischer sehen, als der Sterbende selbst, dass sie quasi mehr leiden als der Betroffene und sich dann wünschen, dass es ein Ende nimmt, während der Sterbende noch gar nicht bereit ist zu gehen. In jedem Fall bewundere ich die Kraft und Ruhe von Marions Tochter, die ihre Mutter so liebevoll bis zum Schluss begleitet hat und sogar neben ihr im Bett gelegen hat, als sie dann gestorben ist.

 

Wie sehen Sie die Rolle des begleitenden Arztes?

Ulrich Fink: Aus theologischer Sicht kann ich hier keine Probleme erkennen. Es ist nicht Aufgabe eines Arztes, alle Mittel anzuwenden, die ein Leben eventuell verlängern könnten. Wir Menschen sind im Gegenteil dazu aufgerufen, auch den Tod anzunehmen. Und das tut der begleitende Arzt.

Christiana Muth: Der Arzt betont ja zu Recht im Interview, dass früher, als es noch nicht die heutigen Methoden der Palliativmedizin gab, viele Menschen gegangen sind, indem sie an einem bestimmten Punkt Essen und Trinken verweigert haben. Sie haben sich ins Bett gelegt und sind irgendwann sanft entschlafen. Da hatte auch niemand moralische Bedenken.

Ulrich Fink: Wichtig ist außerdem: Marion M. war eine schwerstkranke Frau. Auch wenn es keine ganz klare Diagnose ihrer Erkrankung gab, so war doch klar, dass diese Erkrankung über kurz oder lang zum Tod führen würde, und die Patientin nimmt diesen Tod nur vorweg. Dass ein Arzt sie auf diesem Weg begleitet, halte ich aus medizinischer Sicht sehr sinnvoll, schließlich kann es durch den Flüssigkeitsverlust zu Komplikationen kommen, die das Eingreifen eines Arztes nötig machen.

 

Sterbenskrank oder einfach lebensmüde – ist das also für Sie die entscheidende Frage?

Ulrich Fink: Ich würde selbstverständlich auch eine Person begleiten, die nicht todkrank ist. Aber ich hätte, ehrlich gesagt, Schwierigkeiten damit